J. Schmoelling  -  C. Franke  -  E. Froese

Ein Artikel aus dem FDJ-Magazin neues leben vom Februar 1980. Es sind noch fast zehn Jahre, bis die Mauer fällt. Am 31. Januar 1980 gab TD zwei Konzerte im Palast der Republik. Der Balanceakt zwischen dem Lob der Musik und der Tatsache, dass es eine Westgruppe ist, macht den Artikel interessant.

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Von Wolfgang Martin

Zuerst vernimmst du ein ganz leises Rauschen ... Das wird lauter, kommt immer näher und sitzt dir schließlich hartnäckig im Ohr. Du lehnst dich in den Sessel zurück, zuckst plötzlich zusammen: Ein Synthesizer vergibt programmgemäß seine Töne.
Es ist wie im Kino bei einem utopischen Film. Jetzt erhebt sich ein ganzes "Orchester": Mellotron heißt das im Sprachgebrauch elektronischer Musik. Synthetische Streicher säuseln dir eine zarte Melodie ins Ohr, die schon im nächsten Moment im rhythmischen Getöse mehrerer Synthis und E-Pianos untergeht.
Der Countdown läuft, die Apparaturen sind eingeschaltet, das Leitmotiv verkündet, von dem aus die Improvisationen ihren Verlauf nehmen. Ein faszinierendes Spektakel beginnt, ein Konzert, Elektronik-Rock.
Zehn, zwölf Jahre liegen die Anfänge der Experimente zurück. Inzwischen hat diese Synthese von Musik und moderner Technik längst zu neuen Hörgewohnheiten geführt. Einen typischen Vertreter dieser Richtung, eine Gruppe, die seit mehr als zehn Jahren die Entwicklung solcher Musik mitbestimmt, möchten wir euch vorstellen.

TANGERINE DREAM oder das Zeitalter der elektronischen Rockmusik

Das Instrumentarium der Rockgruppen hat sich in den letzten Jahren ziemlich verändert. Heute sind es vor allem die Klangmöglichkeiten der elektronischen Übertragung, die auf den Zuhörer wirken. Es ist wie eine neue Dimension in der Musik, und in der Tat hat sich der Elektronik-Rock als eigenständiges Klangmodell durchgesetzt. Dabei gab und gibt es viele Diskussionen um das Für und Wider jener fast ausschließlich auf elektronischen Tasteninstrumenten gespielten Musik. Fragen tauchen auf: Reduziert sich die Funktion des Elektronik-Rock lediglich auf eine mehr oder weniger phantasievolle Ergänzung zur Science­fiction-Literatur? Kann der Komponist durch einen Computer ersetzt werden und jede Form rhythmischer, melodischer und harmonischer Gebundenheit in der Komposition ausgespart werden ? Wird das Arrangement durch stereotype gespeicherte Klangstrukturen ersetzt? All diese Fragen wurden in den letzten Jahren von Rockmusikern wie Musikwissenschaftlern oder Vertretern der Ernsten Musik auf unterschiedlichste Weise beantwortet. Die musikalische Praxis zeigt mögliche Antworten : Namen wie "Stern Meißen" aus unserer Republik, Czeslaw Niemen oder SBB aus Polen, das Alan Parsons Project und Mike Oldfield aus England seien hier nur genannt. Eine der interessantesten Vertreter dieser Richtung ist zweifelsohne die Gruppe TANGERINE DREAM aus Westberlin. Bereits 1967 gegründet, arbeitete diese Gruppe unter der musikalischen Leitung des Komponisten und Instrumentalisten Edgar Froese zielgerichtet auf eine Entwicklung hin, die ihr internationales Ansehen und Anerkennung brachte. Mit Begriffen wie "Krautrock" diffamiert, hatten die Musiker noch vor wenigen Jahren auf dem von amerikanischen und englischen Musikprodukten überschütteten westlichen Markt keinerlei Chancen. Besonders wichtig waren anfangs musikalische Vorbilder {Stockhausen, Zappa, Hendrix), denn immerhin handelte es sich bei der von Tangerine Dream angestrebten Richtung um eine bis dato ungewohnte Fusion musikalischer und technischer Mittel.
Die Gruppe wurde zu einer Zeit populär, als die politische Landschaft Westberlins von der Opposition vieler Studenten gegen die bürgerliche Gesellschaft und deren Establishment bestimmt war. In dieser Zeit entstanden in der BRD und in Westberlin viele Musikgruppen, die mit ihrer musikalisch­inhaltlichen Konzeption der oppositionellen Jugend dieser Gesellschaft Identifikationsmöglichkeiten boten. So kam es im September 1968 während der Essener Song­Tage zu einem spektakulären Auftritt zahlreicher Gruppen aus der BRD wie Guru Guru, Jane, Ash Ra Tempel, Can, Amon Düül und nicht zuletzt Tangerine Dream aus Westberlin. Erstmals stellten sie dem Publikum als Alternative zum alles beherrschenden britischen und amerikanischen Rockmusikangebot Eigenes vor.
Im Laufe der Jahre gab es eine ganze Reihe personeller Veränderungen bei Tangerine Dream. Ganz sicher hat das auch etwas mit dem Stil der Gruppe zu tun. Eine Definition ihrer Musik ist nur sehr schwer zu geben. Es ist eine Musik, die konzentriertes Zuhören erfordert, dabei unterschiedlichste Assoziationen auszulösen vermag; jeder Zuhörer kann sich selbst "auf die Reise begeben", seine Phantasie und Gedankenwelt entfalten Edgar Froese auf die Frage, für wen Tangerine Dream Musik macht: "Für jeden, der bereit ist, ein bißchen Konzentration und Geduld aufzubringen. Unsere Musik bedeutet keine Flucht und auch keine schönere Welt, Sie bringt nur ein stark verändertes Zeitgefühl zuwege..." Tangerine Dream qualifizierte sich während ihrer nun bald 12jährigen Existenz zu einer internationalen Konzert-Attraktion. Besonders populär wurde sie in England und Frankreich, auch in Australien und in den USA, wo ihre Musik lange Zeit vor dem sogenannten Space­Rock ein neues Zeitalter elektronischer Rockmusik einläutete. Tangerine Dream musizierte in altehrwürdigen Konzerthäusern wie der "Royal Albert Hall" in London, produzierte zahlreiche Schallplatten und war fortan auch für Filmmusiken gefragt. (Beispiel: "Brennpunkt Brooklyn").
In ihrer aktuellen Besetzung stellte sich Tangerine Dream bei einem DT-64-Jugendkonzert am 31. Januar im Palast der Republik vor. Ihre Musik sehen sie selbst als eine der Ausdrucksformen moderner Rockmusik, Tangerine Dream: "Es war ein bedauerliches Mißverständnis, als man unseren Stil kategorisch - etwa als ,kosmische Musik' - einzustufen versuchte."
In den nächsten Wochen gibt es im Rundfunk der DDR einige Sendungen, in denen einige LP's von Tangerine Dream vorgestellt werden. "FF dabei" besorgen. da steht's dann bei "Duett" (BR) und "Kontraste-Kontakte" (Stimme der DDR) ganz genau drin.

 

Einige Daten und persönliche Anmerkungen rund um den Artikel: (Stand: 2000)

Die Konzerte

In der DDR als LP bei Amiga, im Westen als PERGAMON erschienen. TD war die erste West-Rock-Gruppe, die in einem offiziellen Gebäude der DDR spielte. Sicher auch wegen der rein instrumentellen Natur ihrer Musik. Im Booklet zum 1996 Re-Release der CD (Castle ESM CD 413) berichtet Edgar Froese interessante Details rund um die Konzerte. Die Musik, bei der erstmalig Johannes Schmoelling (auf dem Bild ganz untypisch mit Bart!) mit von der Partie ist, wird zum Studio-Album TANGRAM beitragen.

Mellotron

Das Mellotron ist eine Art analoger Vorläufer moderner Sampler, der schon Mitte der Sechziger Jahre aus einem Vorgängerinstrument namens Chamberlin entwickelt und produziert wurde. Durch den Druck auf eine der Tasten wird ein kurzes Tonband abgespielt, auf dem ein der Tonhöhe der Taste entsprechender Klang aufgezeichnet ist. Beim Loslassen der Taste wird das Band durch einen Mechanismus zurückgeschnellt und wieder aufgerollt. Da das Tonband nur eine bestimmte Länge hat, können keine beliebig langen Töne gespielt werden, sondern ein Band reicht nur für ca. 8 Sekunden. Dafür ist die Polyphonie quasi uneingeschränkt, da jeder Ton sein eigenes Band und seinen eigenen Mechanismus hat. Link auf eine Fanpage.

Stern Meißen

Spielen auch heute noch, hier die Homepage.

SBB

Eine Fanpage habe ich gefunden.

Brennpunkt Brooklyn

Originaltitel "The French Connection", USA 1971. Zu diesem Film hat TD natürlich NICHT die Musik geschrieben. Die erste TD-Filmmusik wurde zu Sorcerer erst 1977 komponiert. Bei beiden Filme führte William Friedkin Regie, möglicherweise daher die Verwechslung.

DT-64

Legendärer Jugendsender der DDR.